trunken zerebral

Werkdokumentation

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trunken zerebral 
Das Produktionsteam Das Team
Die Sprecher im Studio Die Sprecher

ist eine Radio-Hörspielproduktion, die im Auftrag von Sender Freies Berlin (SFB), Ostdeutscher Rundfunk Brandenburg (ORB), Radio Bremen (RB) und Österreichischer Rundfunk Kunstradio (ORF) im Jahr 2000 entstand. Das Werk basiert auf Motiven aus den Novellen Gehirne von Gottfried Benn und Texten von Heiner Grenzland

Die Ursendung im Rahmen der Internationalen digitalen Radiokunst (IDR)war am 21.12.2001 um 22:00 Uhr im SFB Berlin, die österreichische Erstausstrahlung am 21.07.2002 auf ÖR1. Weitere Ausstrahlungen erfolgten beim Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg und Radio Bremen (23.08.2002)

Titel

Der Titel trunken zerebral ist dem Gedicht Schweifende Stunde von Gottfried Benn entommen und bezeichnet in formelhafter Kürze das Nebeneinander von Intellektualität und Ekstase. Damit ist kein, z. B. durch Drogen bewirkter, rauschhafter Zustand gemeint, sondern die "Befreiung aus der Qual des Bewusstseins" als ein Zustand konstruktiver, man könnte auch sagen: geistig-künstlerischer Freiheit. Gottfried Benn verwendet dafür den Begriff "Zusammenhangsdurchstoßung.‟

Themenhintergrund

Seit dem griechischen Philosophen Platon und dessen Höhlengleichnis wird hinsichtlich der Wirklichkeit die Frage aufgeworfen, ob wir dieselbe über unsere sinnliche und kognitive Wahrnehmungsfähigkeit überhaupt erkennen können. Das bedeutet: Gibt es ein absolutes So-Sein, oder ist alles, was wir wahrnehmen, letztlich eine Konstruktion? Die Verneinung eines absoluten So-Seins führt zu der These, dass es "verschiedene‟ Wirklichkeiten geben könnte - und dass jede dieser möglichen Wirklichkeiten auch irgendwie herstelltbar, konstruierbar sein müsste.

Anfang des 20. Jahrhunderts tritt die philosophische Strömung des Radikalen Konstruktivismus auf und bezieht eine erkenntnistheoretische Position, nach der die Welt ausschließlich subjektiv wahrgenommen werden kann. Die individuelle Wahrnehmung ist demnach kein Abbild einer unabhängig vom Individuum bestehenden Realität, sondern für jeden Menschen immer nur eine Konstruktion seiner eigenen Sinnesreize und seiner Gedächtnisleistung.

Die Erkenntnisse der Quantenmechanik sollen (quasi rückwirkend) dann den Beleg für diese konstruktivistische These liefern, denn: Die Welle-Teilchen Komplementarität wie auch die Heisenberg'sche Unschärferelation hebt das in der klassischen Physik geltende Gesetz aus dem Angeln, nach dem Ort und Zeit voneinander unabhängige Eigenschaften eines Ereignisses sind und das Objekte und das Subjekt in einer eindeutigen Relation zueinander stehend betrachtet werden. Unabhängig von der Frage, was die Wirklichkeit verursacht, ist also ihr Sosein (zumindest auf der Ebene der Elementarteilchen) von der Perspektive auf sie abhängig bzw. vom Instrumentarium, mit dem ihre Beobachtung erfolgt. Und wenn ein Physiker dies in philosophische Worte kleidet, dann klingt das so:

"We have become both: spectators and actors at the same time in the great drama of existence [...]"
- Niels Bohr [1]
DATEN
Originaltitel trunken zerebral
Autoren Gottfried Benn
Heiner Grenzland
Klänge/Musik Heiner Grenzland
Musikeinspielungen Ensemble Présence
Dauer(n) O-Fassung: 31:37 Min.
Kurzfssg: 25:49 / 22:02 Min.
Gattung Hörspiel
Grenre ars acustica
Sender SFB, ORB, ORF, RB
Jahr der Produktion 2001
Land der Produktion Deutschland
Sprache Deutsch
Erstausstrahlung 21.12.2001, SFB Berlin
TEAM
Regie Heiner Grenzland
Regieassistenz Alexander Gröschner
Produktiinsassistenz Juliane Plodek
Ton & technik Peter Avar
Kathrin Witt
Postproduction Oliver Kern
Casting Jutta Schnirch
Federführende Redakteure Manfred Mixner
Holger Rink
SPRECHER
Stimme 1 Simon Böer
Stimme 2 Christian Gaul
Stimme 3 Joachim Schönfeld
Stimme 4 Ann Vielhaben
SONSTIGES

Unter Mitarbeit von Corinna Zeil, Hannes Beil und Susan Rüttler. Mastering: msm-Studio. Mit freundlicher Genehmigung des Klett-Cotta Verlages Stuttgart für die Verwendung der Gottfried Benn-Texte.

Programmatik

Aus den oben dargestelten Überlegung leitet sich die Idee und das Gestaltungsprinzip von "trunken zerebral" her; das, abstrakt gesagt, aus zerfallendenden und sich aufbauenden Bedeutungszusammenhängen besteht. Diese Elemente des Werkes "floaten", d.h. sie wechseln ihre Bedeutung oder Funktion und verdichten sich im Zusammenspiel mit anderen zu immer neuen (Hör-)"Wirklichkeiten", in denen die Abgründe dieses Prozesses aufklaffen. Hierin liegt der Bezug zu den Novellen Gehirne von Gottfried Benn, in denen mit literarischen Mitteln die Konstruktionen einer neuen (Sprach-)Wirklichkeit versucht ist. Auch der Bezug zum Radikalen Konstruktivismus und zur Kopenhagener Deutung der Quantentheorie, die beide eine neue Deutungsperspektive auf die Wirklichkeit eröffnen, wird darin erkennbar.
„Wer kann die Welt noch als Ganzes fassen? Ist es nicht so, dass sie zunehmend in auseinander driftende bloße Funktionen zerfällt? Der Auflösung einer einheitlichen Weltwahrnehmung folgt die Auflösung der bisherigen Identitätskriterien, man könnte sagen: die Auflösung des personalen Selbst. Entwickeln wir ein „multiples Ich‟ — oder bilden wir uns dies uns ein?
Vor diesem Hintergrund könnte Wirklichkeit in bestimmten Situationen nur noch als temporäre Schnittstelle irgend welcher ineinander fallender Ereignisse wahrgenommen werden, als eine mehr oder weniger zufällige Kongruenz von mehr oder weniger beliebigen Subjekten mit beliebigen Objekten.“

"Realität ist eine Arbeitshypothese. Was zerfallen ist, kann wieder neu zusammengesetzt werden."
– Heiner Grenzland [2]

Handlung

Einen klar umrissene, durchgehende Handlung gibt es in trunken zerebral nicht. Das Werk setzt sich aus charakterlich und strukturell unterschiedlichen Abschnitten (="Bedeutungszusammenhänge") zusammen. Dies sind teilweise banale Alltägichkeiten, oder absichtlich intellektuell etwas überspannte Dialoge und Reflexionen, oder auch scheinbar beliebige Statements irgend ein Thema betreffen. Dieses Mosaik spiegelt auf der Metaebene den Kampf zwischen zwei antagonischen Behauptungen (=Konstruktionen) von Wirklichkeit.

Formteile

trunken zerebral besteht aus einem Prolog, einem Epilog und 8 ineinander übergehenden sogenannten "Algorithmen". Jeder Algorithmus ist durch eine bestimmte Methode der Anwendung gekennzeichnet. Prolog und Epilog sind keine Algorithmen, weil sie frei-improvisatorisch angelegt sind.

  1. Prolog | Solo: "Entstirnt … Das Wort gibt's doch gar nicht."
  2. Algorithmus 1 | Präludium: "Kongruenz und Koinzidenz von … von ...."
  3. Algorithmus 2 | Gemeinschaft Er und Sie: "Genuss pur."
  4. Algorithmus 3 | Herrenrunde: "Die tropische Frucht."
  5. Algorithmus 4 | Mutter und Kind: "Ja guck mal da, das ist die böse böse Entfremdung ..."
  6. Algorithmus 5 | Reminiszenz: "Cabaret Realität."
  7. Algorithmus 6 | Gemeinschaft Café: "Das Bild, das namenlose Glück.‟
  8. Algorithmus 7 | Bandwurm: "Gestatten, mein Name und so weiter."
  9. Algorithmus 8 | Postludium: "Der bisherige Mensch ist zu Ende. Kaputt."
  10. Epilog | Tutti: "Soll er doch alleine 'blau' sprechen!‟

Materialien

Die gesprochenen Texte, alle Klänge und Geräusche, die verwendet werden, sind in zwei akustische Kategorien mit jeweils zwei Klassen und zwei Untergruppen eingeordnet:

Erste Kategorie: SPRACHE Zweite Kategorie: KLÄNGE
Klasse A:
Unverständliche Texte
Klasse C:
Geräusche
Gruppe 1:
Sprachliche Konstruktionen.
Z.B.: "Blau ein Lied", "Entstirnt", "Und er fand wohin."
Gruppe 5:
Künstlich erzeugte Geräusche
Gruppe 2:
Abstraktes / Absurdes
Gruppe 6:
Natürliche Geräusche
Klasse B:
Verständiliche Texte
Klasse D:
Musiken
Gruppe 3:
Faktische Aussagen
Z.B.: Aussagen zur Quantenmechanik, Zahlen
Gruppe 7:
Fragmente / Motive
Gruppe 4:
Konventionelles
Z.B.: Beschreibungen, Banalitäten oder
auch Versuche der "Einreihung‟ (siehe 4.2.)
Gruppe 8:
Musikstücke
In sich geschlossene Musikstücke
Textliches Basismaterial sind teils bearbeitete Fragmente und Szenen aus den Novellen Gehirne von Gottfried Benn. Hinzu kommen Aussagen zur Quantenmechanik, darunter ein O-Ton von Niels Bohr, ferner Texte von Heiner Grenzland. Die meisten der aus diesem Material konstruierten Dialoge sind wenig regelkonformen, weil die Dialogpartner meist aneinander vorbei oder neben- und durcheinander reden.
Außer im Algorithmus 3 (Herrenrunde: "Die tropische Frucht") sind die Dialoge/Texte nicht personalisiert. Die zu hörenden Aussagen könnten also auch Gedanken und Fantasien imaginärer Personen sein, vielleicht aber auch die überlegungen eines „multiplen Ichs.‟ Auch auf diese Weise wird zwischen verschiedenen Perspektiven hin- und her geswitcht­. Alle Elemente sind nach strengen Regeln ein- und zusammen gesetzt.

Rezension

"Heiner Grenzland spielt in trunken zerebral auf ein gegenwärtiges Bewusstsein an, das begonnen hat, seine Wirklichkeit aufgrund der medienverzerrten Verstellung einer Sicht auf die Welt als beliebig aufzufassen. Eine Folge davon sind sich selbst verstümmelnde Jugendliche oder die gesellschaftlich anerkanntere Form des Piercing oder Tattoos. Wo Identität nicht mehr von alleine gespürt wird – was eine der Folgen aus dem Verlust des personalen Selbst ist – da müssen eben äußerliche Maßnahmen das verlorene Selbstverständnis ersetzten. Heiner Grenzland sucht diesen aktuellen Ausdruck unserer Zeit in einem Spiel mit sich einander bekämpfenden Realitäten abzubilden.‟
- Andres Hagelüken zur Ursendung am 21.12.2001 im Sender Freies Berlin (SFB)

trunken zerebral ist ein in erster Linie selbstreferenzielles akustisches Spiel mit Worten, Klängen und Geräuschen. Der klangsprachliche Prozess triggert auf einer sprach- und empfunsungsassoziativen Ebene verschiedene Perspektiv- und Bedeutungswechsel und verweist damit in über ihn selbst hinausgehende Räume. Die überspannte Intellektualität wird immer wieder durch komische Wirkungen unterlaufen. So steht "[...] das Banale neben dem Hochtrabenden, das Unsinnige neben dem Idealen und formt eine kontrastreiche Szenenfolge, die zu einem Apotheose führt und sich zugleich im Spiel der freien künstlerischen Fantasie auflöst.‟
- Radio Bremen, Programmheft online (2002)

Quellen