- CHAT LINES - CHAT LINES - CHAT LINES - CHAT LINES - CHAT LINES -

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... war, das babylonische Sprachgewirr in den Chatrooms des Internets in eine klangkompositorische Struktur zu übersetzen. Im Chatroom reden ja alle durcheinander, über verschiedene Themen und teils in einer eigens spezifizierten Chat-Sprache. Bei dieser Vorstellung drängte sich mir die Assoziation zum mittelalterlichen Motetus auf - eine musikalische Form der Notre-Dame-Schule (um 1200). Dort singen die Sänger verschiedene Texte in verschiedenen Sprachen (z.B. lateinisch, französisch und italienisch) und mit verschiedener Melodik und Rhythmik. Passt, dachte ich mir. Genauso wie beim Motetus kam es auch mir darauf an, die Summe des Ganzen als Klang-Erlebnis zu begreifen. Und so wie der Motetus im 12. Jahrhundert ein neues Klangbild und damit eine Entsprechung zum gotischen Kirchenraum schuf, so wollte ich die "Superpolyphonie" der Chatrooms als akustische Entsprechung zum virtuellen Raum der Internets, zum Cyberspace darstellen.

Perfekt!, dachte ich mir und legte gleich zwei Mittel für die Ausgestaltung fest: den Aufbau einzelner Ereignisse - Lines - zu komplexeren akustischen Gebilden und das Herauslösen einzelner Lines aus solchen komplexen Zusammenhängen. Daneben noch eine Ebene von "solistischen" oder "kammermusikalischen" Passagen, von wo aus eine imaginäre Person immer wieder in verschiedene Chatrooms abtaucht. - Alles klar, ab ins Studio!

Nach den ersten Ausarbeitungen musste ich feststellen, dass das alles zwar superschön ausgedacht war, aber nicht funktionierte. Warum nicht? Weil zu wenig Entwicklung stattfindet. Denn die akustische Abbildung von Chaos und das Aufzeigen der atomistischen Bestandteile - das Wechselspiel zwischen Innen und Außen - ist hier als künstlerische Konzeption allein zu eindimensional. (Seufz, was dazugelernt!) Ergo: Ich musste nach zusätzlichen, akustisch umsetzbaren Aspekten des Chattens suchen ... und zwar auf der Ebene der Sprache, des Sprechens selbst. Frage: wie sieht dieses Sprechen im Chat aus, was ist überhaupt die Motivation der Chattenden und in welchem übergeordneten Zusammenhang ist das zu werten? - Mit diesen neuen überlegungen war ich über die rein klangkompositorische Konzeption hinaus: in der Verbindung mit dem Sprechen und dessen Möglichkeiten des Ausdrucks verschiedener Emotionen hatte ich jetzt eine neue Richtung für die vielschichtige, komplexe und phantasievolle Ausgestaltung gefunden.

Für mich ist CHAT LINES - mal ganz ambitioniert gesprochen - auch ein Dokument des Übergang von der Wort- zur Bildgesellschaft (geworden). Das klingt paradox; doch die Chatrooms als zeitgenössische Tempel der Kommunikation produzieren in ihrem inflationären Kommunikationsfluß größtenteils nur Bedeutungslosigkeit. Dies geschieht durch eine Art begrifflicher Entleerung: man redet, ohne etwas zu sagen, es werden kaum noch Inhalte aber umso mehr Plattitüden ausgetauscht. Man spricht nicht wirklich miteinander. Was transportiert wird, ist oft wie "geklont", der zwischenmenschliche Austausch bewegt sich in Klischees. Diskussionen oder emotional geführte Auseinandersetzungen verlaufen nach Musern, die vor allem aus der Werbung und den TV-Soaps abgeschaut sind; alles gerät zur Pose. Hinzu kommt die Austauschbarkeit der Teilnehmer und der Identitäten wie auch der Kommunikationsgegenstände selbst, was bedeutet, dass alles Gesagte genauso gut von jedem beliebigen anderen s o oder auch ganz anders gesagt, gefragt, oder beantwortet werden könnte. Auf diese Weise wird Sprache zu einem indifferenten, neutralen "Symbol-Pool", der zwar immer wieder neu, aber nur geringfügig anders zusammengesetzt werden kann. Der Begriff, das Wort wird zu einer Hülse, zu einem formalisierten Träger von standardisierten Emotionen und Aussagen und zu einem Erkennungsmerkmal hinsichtlich Gruppenzugehörigkeit und Status des jeweiligen Chatpartners. Auf diese Weise entsteht aber das Gegenteil von wirklicher Kommunikation - nämlich soziale Entfremdung und ein zunehmendes Unvermögen, das wirkliche Leben vom gespielten noch unterscheiden zu können. (Im spezifischen Sprechduktus, den wir in den Chats angewendet haben, spiegelt sich das)

Alle diese angesprochenen Aspekte sind umgesetzt, aber nicht in einen dominierenden, kritisch-"negativen" Audruck, sondern im Gegenteil: im Vordergrund steht der Charme und Witz, die Lebendigkeit und Leichtigkeit der Cyber-Welt, die sympathische Oberfläche. Chat Lines ist ein spaciges Stück, das dank der wunderbaren Sprecher/Schauspieler wie ein bunter Luftballon aufsteigt - man spürt nur ab und zu, dass er über einem dunklen Abgrund schwebt.